1Die zweite Landtagswahl in Bayern nach 1945 hatte am 26. November 1950 stattgefunden. Die CSU, die bei der Landtagswahl 1946 noch 52,3% und bei der Bundestagswahl 1949 nur noch 29,2% der Stimmen erhalten hatte, verschlechterte sich im Wahlergebnis nochmals und erreichte 27,4% der Stimmen. Die SPD kam auf 28% Stimmenanteil, die beiden erstmalig angetretenen Parteien Bayernpartei und der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten/Deutsche Gemeinschaft (BHE/DG) erreichten 17,9% und 12,3%, die FDP 7,1% Stimmenanteil. Die WAV und die KPD verpaßten mit 2,9% bzw. 1,9% den Einzug in den Landtag. Obwohl die CSU in der Landtagswahl 1950 zum einzigen Mal in den Nachkriegswahlen von der SPD geschlagen wurde, erhielt sie aufgrund von Überhangmandaten mit 64 Landtagssitzen ein Abgeordnetenmandat mehr als die SPD. Die BP stellte 39 Angeordnete, der BHE/DG 26, die FDP 12. Vgl. hierzu: Wahl zum Bayerischen Landtag am 26. November 1950.
1Ministerpräsident Dr. Ehardstellt fest, daß im heutigen Ministerrat mit Rücksicht auf den Zusammentritt des Bayer. Landtags die Frage geklärt werden müsse, ob die Regierung zurücktreten soll oder nicht.2Nach Art. 44 der Bayer. Verfassung werde der Ministerpräsident auf die Dauer von 4 Jahren gewählt,3das hieße im jetzigen Fall, sein Amt ende mit dem Ablauf des 20.Dezember 1950 automatisch und damit auch das Amt der Staatsregierung, nachdem die Wahl im Jahre 1946 am 21. Dezember stattgefunden. habe.4Selbstverständlich ende das Amt auch dann, wenn der neugewählte Landtag schon vorher einen neuen Ministerpräsidenten gewählt habe. Der Landtag sei ja, ebenfalls nach Art. 44 der Verfassung, verpflichtet, den Ministerpräsidenten innerhalb einer Woche nach seinem Zusammentritt zu wählen.5Wenn am 18. Dezember diese Wahl nicht zustande käme, trete ein verfassungswidriger Zustand ein und man müsse sich überlegen, was sich daraus für Folgen ergeben könnten.2Die erste Sitzung des neugewählten Landtags fand am gleichen Tag des vorliegenden Ministerrats, am 11. 12. 1950, statt. S. StB.
I S. 1 –7. Vgl. zu den folgenden Ausführungen Ehards auch: Die Neue Zeitung Nr. 299, 18. 12. 1950, „Regierungswechsel enthüllt Verfassungslücken“ sowie die Materialien in PA vorl. Nr. 22.3Art. 44 Abs. 1 BV: „Der Ministerpräsident wird von dem neugewählten Landtag spätestens innerhalb einer Woche nach seinem Zusammentritt auf die Dauer von vier Jahren gewählt.“4Zur ersten Wahl Ehards zum MPr. am 21. 12. 1946 s. Protokolle Ehard I S. XXV-XL; Schlemmer, Aufbruch S. 168–186, hier insbes. S. 181–186; Gelberg, Ehard, S. 37–44; Ders., Kriegsende S. 684–688.5S.o. Anm. 3.
2Der Ministerrat müsse sich jedenfalls heute entscheiden, was zu tun sei. Solle eine Erklärung abgegeben werden, daß die Staatsregierung zurücktrete oder nicht? Er persönlich sehe eigentlich nicht ein, warum man heute formell zurücktreten solle, zumal ja der Landtag verpflichtet sei, spätestens am18.Dezember neu zu wählen. Es handle sich zweifellos um einen gewissen Präzedenzfall, der genau überlegt werden müsse. Die größte Schwierigkeit bestehe ja darin, daß in der Verfassung für den Fall, daß innerhalb einer Woche kein neuer Ministerpräsident gewählt werde, nichts vorgesehen sei.
3Staatsminister Dr. Ankermüller stellt sich gleichfalls auf den Standpunkt, daß heute bei der Eröffnungssitzung des Landtags noch keine Rücktrittserklärung abgegeben werden solle, sondern der Ablauf der Vierjahresfrist abzuwarten sei.
4Ministerpräsident Dr. Ehard bezeichnet es als notwendig, jedenfalls dem Landtag gegenüber eine entsprechende Erklärung abzugeben, er habe darüber auch schon mit den Herren Abg. Dr. Hoegner, Bezold6und Oberländer7gesprochen. Zu entscheiden sei lediglich, ob man den Standpunkt der bayerischen Regierung schriftlich niederlegen oder nur eine mündliche Erklärung abgeben wolle; er selbst neige dazu, das letztere zu tun. Dabei beabsichtige er, ungefähr folgendes zu sagen:6Otto Bezold (1899–1984), Jurist, 1945 Oberlandesgerichtsrat, 1954 Senatspräsident beim Oberlandesgericht München, 14. 12. 1954–8. 10. 1957 StMWi und Verkehr im Kabinett Hoegner II, 16. 10. 1957–5. 12. 1958 StMI im Kabinett Seidel I, 1946–1966 und 1970–1974 MdL (FDP), 1950–1954, 1958–1962 und 1970–1972 Fraktionsvorsitzender, 1946–1950, 1965/66 und 1972–1974 stellv. Fraktionsvorsitzender, 1962–1966 Vizepräsident des Bayer. Landtags.7Prof. Dr. ing. agr. Dr. rer. pol. Theodor Oberländer (1905–1998), Agrarwissenschaftler und Volkswirt, Hochschullehrer, Bundesminister, 1923 Beteiligung am Hitlerputsch, 1924–1929 Studium der Agrarwissenschaften in München, Hamburg und Berlin (Promotion 1929), 1930 Promotion zum Dr. rer. pol. an der Universität Königsberg, 1933 Eintritt in die NSDAP, 1933 Direktor des Instituts für Osteuropäische Wirtschaft in Königsberg, 1933–1937 Gauamtsleiter der NSDAP in Ostpreußen, 1934 Professor für Agrarpolitik in Danzig, 1937 ordentlicher Professor für Staatswissenschaften in Königsberg, im gleichen Jahr in Greifswald, 1940 in Prag, 1940–1942 Tätigkeit als Ostexperte im deutschen Heeresverband im Range eines Hauptmanns, 1945/46 Kriegsgefangenschaft, anschließend Tätigkeit als Landwirt und als Geschäftsmann im Agrarsektor, 1948 Mitglied der bayer. FDP, 1950 Mitglied des BHE, 1950–1953 MdL (BHE) u. Staatssekretär für Flüchtlingsfragen (als Nachfolger von Staatssekretär Jaenicke), 1951 Landesvorsitzender des bayer. BHE, 1953–1961 u. 1963–1965 MdB (BHE, ab 1956 CDU), 1953–1960 Bundesminister für Vertriebene (BHE, ab 1956 CDU), 1954/55 Bundesvorsitzender des BHE.Vgl. Kempf/Merz S. 515–521; als Beispiel einer dezidiert kritisch-investigativen Biographie: Wachs, Oberländer; in apologetischer Stoßrichtung hingegen: Schütt, Oberländer. Umfassende Materialien zum Fall Oberländer auch enthalten in: NL Ehard 1535.
51. Die in der Verfassung vorgesehene Vierjahresfrist endet mit dem Ablauf des 20. Dezember 1950;
62. der Landtag ist verpflichtet, spätestens bis 18. Dezember 1950 einen neuen Ministerpräsidenten zu wählen, womit das Amt der bisherigen Regierung aufhöre;
73. er bitte deshalb darum, mit Rücksicht auf die schwebenden Verhandlungen noch nicht in dieser Woche, aber doch spätestens am 18. Dezember den Landtag zur Neuwahl des Ministerpräsidenten einzuberufen.
8Im übrigen sei er der Meinung, daß man nach dem 20. Dezember 1950, für den Fall daß noch kein Ministerpräsident gewählt worden sei, die Regierung nur noch technische Geschäfte weiterführen könne, aber z.B. nicht mehr die Möglichkeit habe, Beamte zu ernennen, Anträge im Bundesrat zu stellen usw.
9Staatsminister Dr. Ankermüller erklärt, hier mit dem Herrn Ministerpräsidenten nicht ganz übereinstimmen zu können.
10Ministerpräsident Dr. Ehard erwidert, das sei ihm bekannt, er vertrete eben einen strengeren Standpunkt. Jedenfalls müßte der Ministerpräsident am 20. Dezember gewählt sein, dieser könnte natürlich die bisherigen Kabinettsmitglieder beauftragen, die Geschäfte einstweilen weiterzuführen, trage aber dann dem Landtag gegenüber allein die Verantwortung.
11Staatssekretär Dr. Schwalber erinnert daran, daß die Verfassunggebende Landesversammlung seinerzeit diese Bestimmung geschaffen hätte, um geschäftsführende Regierungen zu vermeiden.8Das Parlament sollte gezwungen werden, innerhalb möglichst kurzer Zeit eine neue Regierung zu bilden.8Staatssekretär Schwalber bezieht sich hier auf das mit der Erfahrung der Weimarer Parteienzersplitterung und der Vielzahl der Weimarer Reichsregierungen begründete Anliegen sowohl des Vorbereitenden Verfassungsausschusses wie auch der Verfassunggebenden Landesversammlung, durch die Wahl des Ministerpräsidenten für die Dauer von vier Jahren eine größtmögliche Stabilität der Regierung und die Kontinuität der Regierungsarbeit zu garantieren. In diesem Zusammenhang hatte der Vorbereitende Verfassungsausschuß in seiner 7. Sitzung vom 3. 4. 1946 – v.a. auf Betreiben Hans Nawiaskys – die Streichung des Art. 33 des Hoegner‘schen Verfassungsentwurfs beschlossen, der für den Landtag das Recht vorgesehen hatte, dem Ministerpräsidenten sowie jedem einzelnen Minister und Staatssekretär das Mißtrauen auszusprechen. Vgl. hierzu Gelberg, Verfassungsausschuß S. 153–158; Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Verfassungs-Ausschusses der Bayerischen Verfassunggebenden Landesversammlung Bd. II S. 513–518 u. Bd. III S. 612 f.; ferner Fait, Erneuerung S. 145 f.; Schmidt, Staatsgründung S. 222- 226 u. 234–237.
12Ministerpräsident Dr. Ehard wirft dann noch die Frage auf, ob der Landtag nach 4 Wochen durch den Landtagspräsidenten aufgelöst werden müsse, wenn in der Zwischenzeit keine Regierung zustande gekommen sei.9Auch folgender Fall müsse in den Kreis der Überlegungen gezogen werden, daß nämlich die Amtstätigkeit des Ministerpräsidenten und der Staatsregierung ende, bevor ein neuer Ministerpräsident gewählt sei. Jedenfalls müsse unter allen Umständen versucht werden, am 18. Dezember zu einer Wahl des Ministerpräsidenten und hoffentlich auch der Regierungsbildung zu kommen.9Bezug genommen wird hier auf Art. 44 Abs. 5 BV: „Kommt die Neuwahl innerhalb von vier Wochen nicht zustande, muß der Landtagspräsident den Landtag auflösen.“
13Nach kurzer Aussprache wird beschlossen, daß der Herr Ministerpräsident keinen Brief an das Landtagspräsidium richtet, sondern nach vorheriger Absprache mit dem Fraktionsvorsitzenden lediglich eine mündliche Erklärung des besprochenen Inhalts abgeben solle.10
10Vgl. die Erklärung von MPr. Ehard in der Landtagssitzung vom 11. 12. 1950, StB.
I S. 7 : „Der neugewählte Landtag ist gehalten, nach Artikel 44 Absatz 1 innerhalb einer Woche nach seinem Zusammentritt den Ministerpräsidenten zu wählen. Das wäre also, nachdem heute der erste Zusammentritt des Landtags stattgefunden hat, spätestens am nächsten Montag, den 18. Dezember 1950. Ich möchte dem hohen Haus in seinen Dispositionen über die Festsetzung eines Termins zur Wahl des Ministerpräsidenten natürlich nicht vorgreifen. Aber es ist der Wunsch geäußert worden, den Termin auf den 18. dieses Monats, also auf den nächsten Montag, festzusetzen, um noch Raum für Besprechungen zu haben, die in der Zwischenzeit notwendig geworden sind. Ich möchte gleich daran eine Bemerkung anknüpfen. Es soll nicht etwa der Eindruck erweckt werden, als wolle die jetzige Regierung innerhalb dieser Woche noch irgendwelche Entscheidungen treffen. Ganz im Gegenteil, sie hat sich in dieser Richtung in der letzten Zeit – seit der Wahl – vollkommen zurückgehalten, und ich darf Ihnen die Versicherung abgeben, daß sie das auch in dieser Woche noch tun wird. Es ist notwendig, die Frage des Ministerpräsidenten zu klären, weil, wie Sie wissen, der derzeitige Ministerpräsident zugleich Präsident des Deutschen Bundesrats ist und diese Frage nicht lang offenbleiben kann. Das möchte ich hier bemerken.“ Hans Ehard wurde in der Landtagssitzung vom 18. 12. 1950 mit 130 Stimmen bei 68 Enthaltungen und vier Stimmen für Willi Ankermüller und je einer Stimme für Friedrich von Prittwitz und Gaffron sowie für den nicht mehr in den Landtag gewählten ehemaligen Abgeordneten Otto Schefbeck (CSU) als Regierungschef einer erneuten großen Koalition zum Ministerpräsidenten gewählt und vereidigt. S. StB.
I S. 9 –13. Zur Regierungsbildung des Kabinetts Ehard III im Dezember 1950 vgl. Gelberg, Ehard S. 345–354; den., Kriegsende S. 803–807; Müller, Schulpolitik S. 283–287; Schlemmer, Aufbruch S. 367–381.